Vom Stammtisch zur Ausgehmeile, vom Turnverein zum Aerial Yoga, von der Dorfschule an die Universität, vom Land in die Stadt – Oftmals kehren junge Erwachsene ihrer ländlichen Heimatgemeinde den Rücken und ziehen in die Stadt. Das hat Konsequenzen für das soziale, kulturelle, politische und wirtschaftliche Leben in den betroffenen Gemeinden. Eine dieser jungen Erwachsenen ist Lea Schmid. Mit ihr haben wir uns zum Interview getroffen und uns über fehlende Bars in Rüegsau, den Mikrokosmos Dorf und Heimatgefühle bei einem Langnau-Match unterhalten.
Nora Räss, März 2020
Lea Schmid ist 21 Jahre alt, studiert Geografie und Volkswirtschaft an der Universität Bern und ist Vorstandsmitglied der Jungen Grünliberalen Bern und der Jungen Grünliberalen Schweiz. Und sie ist landflüchtig. Einen Grossteil ihrer Kindheit und Jugend hat sie in Rüegsau im Emmental verbracht, einer Gemeinde mit rund 3200 EinwohnerInnen. Im Zuge ihrer Ausbildung hat sie Rüegsau schrittweise hinter sich gelassen. Zuerst pendelte sie fürs Gymnasium nach Burgdorf, danach zog sie fürs Studium zuerst ein Jahr nach Zürich und schliesslich nach Bern. Eine Rückkehr nach Rüegsau war und ist für sie keine Option.
Wie Lea geht es vielen jungen Menschen in der Schweiz, die auf dem Land aufgewachsen sind. In Zahlen bedeutet dies, dass der sogenannte periphere ländliche Raum[1] seit 1980 11 % seiner Bevölkerung durch Binnenwanderung verloren hat. Die junge Generation nimmt eine besondere Rolle in dieser Entwicklung ein, denn die peripheren ländlichen Räume sind nicht nur von Abwanderung betroffen, sondern auch von Überalterung. In dieser Region wohnen überdurchschnittlich viele Menschen mit Alter über 64 Jahre (Bundesamt für Raumentwicklung 2012: 3). Vor allem in den Medien ist immer wieder von einem Teufelskreis die Rede: Aufgrund fehlender Ausbildungsmöglichkeiten, Arbeitsplätze, Infrastruktur oder mangelndem Kulturangebot zieht es junge Menschen vermehrt in die Städte. Dies macht es immer schwieriger, das soziale und politische Leben in einem Dorf sowie dessen Infrastruktur aufrechtzuerhalten, was wiederum die Abwanderung verstärkt.
Lea ist nicht nur jung, sie ist auch Studentin. Sie verkörpert somit in zweierlei Hinsicht die Statistik. Die ländlichen Regionen im Allgemeinen, also nicht nur der periphere ländliche Raum, sind nämlich von der Abwanderung junger Hochgebildeter betroffen. Diese kehren nach Studienabschluss oftmals nicht in ihre ländlichen Heimatgemeinden zurück (Kraft, Antony und Bosi 2004: 5, Schmidlin 2007: 6, Rérat 2016: 275). Dafür gibt es verschiedene Gründe. Studien zeigen, dass die fehlenden Arbeitsmöglichkeiten auf dem Land für viele junge Menschen das wichtigste Kriterium für den Wegzug darstellen (Kraft et al. 2004: 7, Rérat 2016: 276). So vermutet auch Lea, dass sie in Rüegsau wohl kaum eine passende Arbeit für ihren Abschluss finden würde. Ebenfalls häufig genannt wird der Wunsch nach Veränderung bzw. nach einer anderen Mentalität, als sie auf dem Land vorherrscht (Kraft et al. 2004: 9-10, Rérat 2016: 276). Im Fall von Lea gab zwar der Wunsch nach einem Wandel nicht den Ausschlag für den Wegzug, doch das Leben in der Stadt bzw. das Studium an der Universität hat sie verändert. Politisch hat sich Lea durch die Universität nach links bewegt. Die Rückkehr in eine Gemeinde, und vor allem das politische Engagement in einer Gemeinde, in der der Gemeinderat ausschliesslich aus PolitikerInnen der BDP, SVP und EDU besteht, ist daher wenig verlockend. Allgemein sei das Lebensgefühl in der Stadt ein anderes als auf dem Land, erklärt Lea. Die städtische Variante passe besser zu ihr. Und wenn sie das Ländliche doch einmal vermisst? Dann gehe sie an einen Langnau-Match, antwortet Lea mit einem Grinsen.
Der Wegzug junger Menschen stellt die betroffenen Gemeinden vor verschiedene Herausforderungen. Der Bundesrat stellt in einem Bericht fest, dass ländliche Räume und Berggebiete ihre Standortqualitäten, sozialen Strukturen und Netzwerke so aufwerten müssen, dass junge und insbesondere hochqualifizierte Personen gehalten oder zurück-, beziehungsweise neu gewonnen werden können (Schweizerischer Bundesrat 2015: 27). Zu diesen notwendigen Funktionen gehören neben der Verkehrs- und Telekommunikationsinfrastruktur sowie Gesundheits-, Bildungs-, Verwaltungs- und Postdienstleistungen auch die politischen Strukturen in den Gemeinden. Das Milizsystem ist auf politischen Nachwuchs angewiesen. Doch gerade das freiwillige Engagement in politischen oder öffentlichen Ämtern hat zwischen 1997 und 2016 um rund 70 % abgenommen (Freitag et al. 2019: 34).
Das abnehmende freiwillige Engagement im politischen Bereich in Kombination mit der Abwanderung junger Menschen aus peripheren ländlichen Regionen führt dazu, dass die betroffenen Gemeinden erhebliche Schwierigkeiten damit haben, politischen Nachwuchs zu rekrutieren. Dass besonders junge Hochgebildete ihre ländlichen Heimatgemeinden verlassen, dürfte das Problem dieser Gemeinden, politischen Nachwuchs zu finden, zusätzlich verschärfen, da der Bildungsgrad ein wesentliches Fundament für jegliches politisches und soziales Engagement darstellt (Brady et al. 1995: 280, Wilson 2012: 10, Freitag, et al. 2019: 72-74).
Konkret zeigen verschiedene Untersuchungen, dass ein Drittel bis die Hälfte der Gemeinden Mühe hat, Kandidierende für die Gemeindeexekutiven zu finden. Betroffen sind insbesondere kleinere Gemeinden (Ladner et al. 2013: 13; Derungs und Wellinger 2019: 5). Die Problematik dieser Entwicklung wird von Freitag et al. (2019: 9) sinnbildlich anhand eines Stuhls beschrieben. Wäre das politische System der Schweiz ein Stuhl, der von vier Beinen, nämlich der direkten Demokratie, des Föderalismus, der Konkordanz und dem Milizsystem, getragen wird, so hat dieser Stuhl zu wanken begonnen. Dies, weil die Beteiligung der BürgerInnen an den öffentlichen Aufgaben und Ämtern vermehrt ausbleibt.
Fehlen die Kandidierenden für die Milizämter, stehen den Gemeinden verschiedene Handlungsoptionen zur Wahl – jedoch alle mit einem bitteren Beigeschmack. Je nach Kanton kann eine Person in ein Amt gezwungen werden, so beispielsweise im Kanton Uri. Gewählt wird dort die Person, die in einer Wahl mit leeren Stimmzetteln am meisten Stimmen erhalten hat. Vom Amtszwang befreit sind lediglich über 65-Jährige, Personen, denen die Ausübung des Amts aus „wichtigen Gründen“ nicht zumutbar ist oder wer bereits ein bestimmtes Amt ausübt bzw. ausgeübt hat. Erfüllt man diese Kriterien nicht und weigert sich, ein Amt anzutreten, muss man mit einer Busse von bis zu 5‘000.- Fr. rechnen. Eine weitere Option ist die Zwangsverwaltung. In diesem Fall entzieht der Kanton einer Gemeinde das Recht auf Selbstverwaltung ganz oder teilweise, wenn diese die gesetzmässige Verwaltung auf längere Zeit nicht gewährleisten kann. Die Sachwalterin oder der Sachwalter, die oder der in dem Fall eingesetzt wird, übernimmt diese Funktion. Dies jedoch als AngestellteR auf Kosten der Gemeinde, was für viele eine sehr grosse finanzielle Last darstellt. Scheitern diese temporären Lösungen, bleiben noch die Verkleinerung der Gemeindegremien oder die Gemeindefusion.
Auf die Bereitschaft angesprochen, ein Milizamt zu übernehmen, zeigt sich Lea offen. Eine Kandidatur für den Gemeinderat in Rüegsau hat sie sich bei der letzten Wahl überlegt. Doch da sie sich nicht an Rüegsau binden wollte, hat sie auf eine Kandidatur verzichtet. Ab April ist Lea in Burgdorf stimmberechtigt. Eine Kandidatur für die Gemeindewahlen im Herbst 2020 schliesst sie nicht aus. Gleichzeitig befindet sie sich in einer sehr ungewissen Lebensphase. Sie weiss noch nicht genau, was im nächsten Jahr alles passieren wird, v.a. auch in Bezug auf ein mögliches Auslandsemester. Ihre Mobilität könnte Lea also in Bezug auf ein lokales politisches Engagement im Weg stehen. Damit ist sie nicht allein. In einer Umfrage zum politischen Engagement von Jugendlichen und jungen Erwachsenen[2] gaben 50 % der Befragten unter 25-Jährigen an, dass die noch nicht erfolgte Wahl des Lebensmittelpunktes sie von der Ergreifung eines politischen Ehrenamts abhält. Wichtigere Hinderungsgründe sind nur noch die fehlende Zeit aufgrund des Berufs, sowie die fehlende Zeit aufgrund von Hobbys und anderen Engagements.
Der Werdegang von Lea ist nur ein Beispiel dafür, wie sich das Leben junger Menschen, die auf dem Land aufgewachsen sind, abspielen kann. Neben den Personen, die auf unbestimmte Zeit wegziehen, gibt es auch solche, die ihre ländliche Heimatgemeinde nicht verlassen oder die nach einiger Zeit in der Stadt wieder in die Heimat zurückkehren. Genauso divers wie diese Lebensläufe sind auch die Auswirkungen der Landflucht auf die betroffenen Gemeinden. Klar ist, dass für eine umfassende Betrachtung des Phänomens ein einzelner Blogbeitrag nicht reicht. Die Landflucht stellt für viele Schweizer Gemeinden sowie das Schweizer Milizsystem insgesamt ein grosses Problem dar. Dennoch wird kaum darüber berichtet oder dazu geforscht. Aus diesem Grund hat der Bereich Grundlagen Politische Partizipation GPP des DSJ im Jahr 2020 einen Themenschwerpunkt auf diese Problematik gesetzt. Er wird die Landflucht junger Erwachsener anhand verschiedener Projekte im Verlauf des Jahres beleuchten. Ziel ist, dass auch das Problembewusstsein bei jenen PolitikerInnen und WissenschaftlerInnen gestärkt wird, die nicht täglich mit den Folgen der Landflucht konfrontiert sind. Denn damit ein nachhaltiger Umgang mit der Landflucht junger Menschen erreicht werden kann, ist es von grosser Wichtigkeit, dass ein gesamtschweizerisches Problemverständnis vorliegt und die betroffenen Regionen in der Hinsicht nicht sich selbst überlassen bleiben.
[1] Der periphere ländliche Raum zeichnet sich durch längere Fahrzeiten zur nächstgelegenen Agglomeration aus und liegt ausserhalb des Mittellandes. Zum peripheren ländlichen Raum gehören periphere Zentren (5001-10'000 EinwohnerInnen), periphere Kleinzentren (2001-5000 EinwohnerInnen), der periphere ländliche Raum (501-2000 EinwohnerInnen) und der periphere bevölkerungsarme Raum (bis 500 EinwohnerInnen) (Bundesamt für Raumentwicklung o.J.: 2).
[2] Dabei handelt es sich um eine repräsentative quantitative Online-Umfrage mit 1'000 Teilnehmenden unter 25 Jahren, die vom gfs.bern im Auftrag des DSJ und der HTW Chur (heute FH Graubünden) durchgeführt wurde.
Brady, Henry E., Sidney Verba und Kay Lehman Schlozman. 1995. Beyond Ses: A Resource Model of Political Participation. The American political Science Review, 89 (2), 271-294.
Bundesamt für Raumentwicklung ARE. 2012. Monitoring Ländlicher Raum, Synthesebericht 2012.
Bundesamt für Raumentwicklung ARE. O.J. Im Rahmen des Monitorings ländlicher Raum verwendete Raumtypologien. Bern: Bundesamt für Raumentwicklung.
Derungs, Curdin und Dario Wellinger. 2019. PROMO 35. Politisches Engagement von jungen Erwachsenen in der Gemeindeexekutive – Analysen und Stossrichtungen. Chur: HTW Chur Verlag.
Freitag, Markus, Pirmin Bundi und Martina Flick Witzig. 2019. Milizarbeit in der Schweiz. o.O.: NZZ Libro.
Kraft, Ursula, Caroline Antony und Christine Bosi. 2004. Wegziehen – Bleiben – Zurückkehren. Eine wissenschaftliche Studie der Arbeitsmarktbeobachtung Wallis zur Abwanderung von Kompetenzen von Walliserinnen und Wallisern. Kanton Wallis, Departement für Volkswirtschaft, Institutionen und Sicherheit, Departement für Erziehung, Sport und Kultur, Sitten.
Ladner, Andreas, Reto Steiner, Katia Horber-Papazian, Julien Fiechter, Caroline Jacot-Descombes und Claire Kaiser. 2013. Gemeindemonitoring 2009/2010. Bericht zur fünften gesamtschweizerischen Gemeindeschreiberbefragung. Bern: KPM-Schriftenreihe.
Rérat, Patrick. 2016. Migration and post-university transition. Why do university graduates not return to their rural home region? Geographica Helvetica 71, 271-282.
Schmidlin, Sabrina. 2007. Regionale Abwanderung von jungen Hochqualifizierten in der Schweiz. Empirische Analyse der Hochschulabsolventenjahrgänge 1998 bis 2004. Neuchâtel: BFS.
Schweizerischer Bundesrat. 2015. Politik des Bundes für die ländlichen Räume und Berggebiete; Bericht in Erfüllung der Motion 11.3927 Maissen vom 29. September 2011. Für eine kohärente Raumentwicklung Schweiz. Bericht vom 18. Februar 2015. Bern