Die Politik erreicht die Jugendlichen nicht – dies ist eine der Hauptaussagen des easyvote-Politikmonitors 2018. So sind denn auch Angebote, die das politische Interesse im schulischen Kontext wecken sollen, selten. Dieser Lücke nimmt sich das engage-Atelier «Politik erleben» an. Im Herbst 2018 fand im Kanton Zürich die Pilotphase des Projekts für die Sekundarstufe I statt. Die Evaluation zeigt klar: Der persönliche Kontakt mit PolitikerInnen ist bei Jugendlichen der Schlüssel zu mehr politischer Handlungsbereitschaft und stärkerem Vertrauen in die Politik.
Sebastian Niessen, Mai 2019
Das engage-Atelier „Politik erleben“ ist ein gemeinsames Angebot des Dachverbands Schweizer Jugendparlamente DSJ und der Pro Juventute. Ziel des Projekts ist es, SchülerInnen Politik näher zu bringen und somit ihr Interesse dafür zu wecken. Das Projekt ist deshalb auch als Antwort auf die immer wieder formulierte Forderung zu verstehen, Angebote im schulischen Bereich zu schaffen, die das Interesse von Jugendlichen an der Politik wecken sollen (z.B. Stadelmann-Steffen, Koller & Sulzer, 2015).
Das engage-Atelier «Politik erleben» besteht aus vier Unterrichtseinheiten sowie einer Vorbereitungslektion. Während der Vorbereitungslektion formulieren die SchülerInnen im Alter von 12 bis 15 Jahren eigene Anliegen und Ideen für ihre Gemeinde. Diese Ideen dienen im Anschluss als roter Faden, um den Jugendlichen Gemeindepolitik und Partizipationsmöglichkeiten zu vermitteln. Der wichtigste Teil des Ateliers ist die Diskussion der SchülerInnen mit einem Gemeindepolitiker oder einer Gemeindepolitikerin. Sie besprechen gemeinsam mit den Jugendlichen, wie deren Anliegen umgesetzt werden könnten.
Während der Pilotphase wurde das Angebot in 13 Klassen im Kanton Zürich getestet. Für die Evaluation haben 56 SchülerInnen aus vier Ateliers jeweils vor und nach der Durchführung der Ateliers identische Fragebögen ausgefüllt.
Die Ergebnisse der Evaluation bestätigen die Wirksamkeit des engage-Ateliers. Einerseits ergab sich durch das Atelier ein Anstieg des politischen Responsivitätsgefühls (Vertrauen in die Politik). Damit wird „die Einschätzung, dass die politischen Akteure verantwortlich und politischen Einflüssen zugänglich sind“, bezeichnet (Massing, 2012). Bei 68% der Teilnehmenden resultierte nach dem engage-Atelier also mehr Vertrauen in das politische System und die politischen Akteure. Dies entspricht statistisch einem äusserst signifikanten Anstieg (t = -5.8985, df = 54, p < 0.00*).
Der Anstieg von politischem Responsivitätsgefühl korreliert dabei mit dem Anstieg von politischem Handlungsvorsatz (r = 0.49). Je ernster genommen sich die Jugendlichen durch die Politik fühlen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich vornehmen, auch selber politische Ideen umzusetzen und etwas in ihrer Gemeinde zu verändern.
Der hohe Anstieg beim Vertrauen in die Politik dürfte überwiegend auf den von den SchülerInnen als sehr positiv wahrgenommenen Austausch mit GemeindepolitikerInnen zurückzuführen sein. Der Austausch und die Diskussion mit einem Politiker oder einer Politikerin war nicht nur dem subjektiven Erleben der Atelierleitenden nach das absolute «Highlight» jeden Ateliers. Dass der Austausch mit den PolitikerInnen bei den SchülerInnen besonders gut aufgenommen wurde, konnte auch quantitativ belegt werden. Im Posttest wurden die SchülerInnen gefragt, wie interessant sie den Austausch mit den PolitikerInnen fanden. Von allen im Posttest erhobenen Fragen war diese jene mit dem höchsten positiven Durchschnittswert. Was wenig überraschend ist: zahlreiche Studien zeigen, dass persönlicher Kontakt allgemein einer der wichtigsten Aspekte bei der Veränderung von Einstellungen ist (Kammer, Niessen, Schmid, & Schwendener, 2016).
Bei den weiteren erhobenen Aspekten von Einstellung und Motivation war die Situation ähnlich. Beim Konstrukt Gemeindeinteresse gab es einen statistisch signifikanten Anstieg (p < 0.01), ebenso bei Interesse an Politik (p < 0.00). Auch bei der Selbstwirksamkeit, also dem Glauben, selber etwas erreichen zu können (Kammer et al., 2016), war der Anstieg statistisch signifikant (p < 0.01). Einzig der Anstieg des Handlungsvorsatzes war, vermutlich aufgrund der geringen Datenmenge, statistisch nicht signifikant (p < 0.29).
Innerhalb der Dimension Fachwissen wurde Handlungswissen erhoben. Handlungswissen bezeichnet das Kennen der eigenen Partizipationsmöglichkeiten. Es gilt als eine wichtige Voraussetzung zum Aufbau von Selbstwirksamkeit und Handlungsvorsätzen (Kammer et al., 2016). Handlungswissen wurde sowohl vor als auch nach dem Atelier erhoben, so dass die entsprechende Veränderung berechnet werden konnte. Diese war positiv und statistisch signifikant (t = -3.3, df = 54, p < 0.00).
Bei allen erhobenen Aspekten von Fachwissen sowie von Einstellung und Motivation gab es einen Anstieg. Am höchsten fiel der Anstieg bei Interesse an Politik und an politischem Responsivitätsgefühl aus. Das engage-Atelier «Politik erleben» kann somit einen wichtigen Beitrag dazu leisten, Jugendliche für Politik zu interessieren und motivieren. Diesen Erfolg bestätigte auch eine involvierte Lehrperson: «Politik war für meine SchülerInnen ‘langweilig’. Doch in der Diskussion mit dem Gemeinderat blühten sie plötzlich auf und merkten, was ihre Ideen mit Politik zu tun haben.» Die positiven Ergebnisse des Projekts sind Ansporn, das Angebot nun schrittweise auf die ganze Schweiz auszuweiten.
*Statistische Signifikanz ist bei allen Werten unter p = 0.05 gegeben.